Juri und Miranha – begierigen Blicken ausgesetzt, vermessen und vergessen

Artikel von Eva Bahl – erschienen im Infoblatt 81 – Zeitschrift für internationalistische und emanzipatorische Perspektiven und so

„Typisch München“

(eb) Ein Besuch in der Dauerausstellung des Münchner Stadtmuseums „Typisch München“: Neben dem „angeblichen Schlüsselbein Heinrichs des Löwen“ und „Waldi“, dem Olympiamaskottchen von 1972 hängt da in der Abteilung, in der das München des 19. Jahrhunderts repräsentiert wird, ein Bronzerelief. Es hängt dort, weil es ein frühes Werk des bedeutenden Erzgießers Johann Baptist Stiglmaier war. Auf der begleitenden Ausstellungstafel wird aber noch eine weitere Geschichte erzählt, die sicherlich eher selten als „typisch München“ betrachtet wird – die Geschichte der „Indianerkinder Juri und Miranha“, deren Grab das Relief einmal geschmückt hat.Peters-Projekt

Foto: Zara Pfeiffer

Leerstelle Südfriedhof

Spurensuche am Alten Südfriedhof. Wer ein wenig recherchiert, kann herausfinden, dass sich an der Stelle, an der Juri und Miranha begraben wurden, heute das Grab des 1895 verstorbenen bayerischen Kultusministers Ludwig August von Müller befindet. An die Geschichte von Juri und Miranha gibt es dort – zumindest auf den ersten Blick – keinerlei Erinnerung. Gräber aus der gleichen Zeit, die sich hingegen sehr wohl noch am Südlichen Friedhof finden lassen, sind die von Carl Friedrich Philipp von Martius und Johann Baptist Ritter von Spix. Auf deren Gräbern stehen die Berufsbezeichnungen „Botaniker“ bzw. „Zoologe“. Die Lebensgeschichten von Juri und Miranha sind eng verwoben mit denen der Herren Martius und Spix.

Honorierte Herren

Nach Martius ist in München eine Straße benannt, an dem Ort seines ehemaligen Wohnhauses hängt eine Gedenktafel und im Botanischen Garten steht eine Büste von ihm. Ein viel geehrter Mann also. Martius und Spix waren von 1817-1820 im Auftrag des bayerischen Königs auf einer Expedition in Brasilien unterwegs, von der sie mit 85 Säugetieren, 350 Vögeln, 2700 Insekten und 6500 Pflanzen verschiedenster Arten zurück kamen. Das ist also der Grund für die Ehrung: Sie haben den Grundstein für diverse zoologische, botanische und völkerkundliche Sammlungen in München gelegt. An den botanischen Sammlungen „führt bis heute kein Weg vorbei für jeden, der sich im wissenschaftlichen Sinne mit der Botanik Brasiliens befasst.“1. Die Leistungen dieser Herren Forschungsreisenden werden also nach wie vor honoriert. Die beiden Universalgelehrten begrenzten sich aber nicht auf die Tier- und Pflanzenwelt, vielmehr stellten sie auch umfangreiche Forschungen zur Bevölkerung des Amazonas an, brachten eine Menge ethnographischer Objekte mit nach Bayern.  Masken, Federschmuck, Pfeile und Blasrohre „gehören heute zu den wertvollsten Objekten der Südamerikasammlung im Münchner Völkerkundemuseum.“2

Martius Palme

Martius wird als „Vater der Palmen“ bezeichnet

 

Und sie verschleppten Menschen. Juri und Miranha, deren Grabplatte heute als spezifisch Münchner Bronzekunst im Stadtmuseum zu bestaunen ist, waren die einzigen, die überhaupt lebend in München ankamen. Die Angaben variieren von fünf bis zehn Kindern, die ursprünglich verschleppt worden waren. Martius „verschenkte“ einige der Kinder, andere überlebten die Seereise nach Europa nicht.

Verschleppte Kinder

Juri und Miranha wurden nach ihren jeweiligen Sprachgruppen benannt, ihre wirklichen Namen sind nicht bekannt. Die beiden wurden auf die Namen Johannes und Isabella getauft und in München in königliche Obhut gegeben. Sie wurden der Besichtigung durch die schaulustige Bevölkerung preisgegeben, vermessen, gezeichnet und ihr Verhalten wurde akribisch dokumentiert. Kommunikation untereinander war den Kindern nicht möglich, weil sie nicht die gleiche Sprache beherrschten. Völlig empathielos erscheinen angesichts dieser Situation die zeitgenössischen Beschreibungen der Kinder. Während auf Juri in einigen Beschreibungen eher der „edle Wilde“3 projiziert und seine Herkunft „aus einem Stamme, welcher mehr den Weißen dient“4 honoriert wird, wird Miranha sehr viel negativer als „blöd“, „gefühllos“ und „gleichgültig“ beschrieben.
Ob „edel“ oder „primitiv“: Alle Darstellungen der Kinder sind geprägt von europäischem Überlegenheitsgefühl und „verhindern, den Anderen in seiner Differenz wahrzunehmen und dabei als gleichwertig zu akzeptieren“5.

Schaulust

Direkt nach der Ankunft von Juri und Miranha in München wurden sie im Hause des Forschers Spix der Schaulust der Bevölkerung preisgegeben. Nachdem die Neugierigen sich zuvor in Listen hatten eintragen müssen, konnten sie dann die beiden Kinder begaffen und den Forschern Fragen zu deren Gewohnheiten stellen. Diese Möglichkeit wurde von mehreren Hundert Münchner_innen wahrgenommen. Auch international gab es großes Interesse an den Kindern. So äußerte das Journal de Paris „die Hoffnung, die baierischen Gelehrten würden sich einige Tage zu Paris aufhalten, und ihre junge Menschenfresserin mit ihrem Gefährten der öffentlichen Neugierde preisgeben.“6
Zusätzlich angeregt wurde diese Schaulust durch die Berichte Martius‘ über angebliche Menschenfresser und Hexerei bei der amazonischen Bevölkerung und durch mitgebrachte Kuriosa wie ein vermeintlich mit Menschenzähnen besetztes Reibebrett.7 Neben dieser ganz direkten und persönlichen Zurschaustellung im Hause Spix‘ wurden Juri und Miranha auch vielfach gezeichnet. Um die gesammelten Gegenstände – Kleidung, Schmuck, Masken, Waffen, Musikinstrumente – möglichst authentisch darzustellen, standen Juri und Miranha für einen Atlas Modell und sollten die verschiedensten amazonischen „Stämme“ repräsentieren.

Perspektivwechsel

Durch diesen Atlas, die Aufzeichnungen von der Reise, unzählige Urkunden, Auszeichnungen und Briefwechsel gibt es viele Möglichkeiten, sich den Blick von Martius und Spix auf die Welt zu erschließen. Dieser reicht von der Bezeichnung der indigenen Bevölkerung Brasiliens als „primitiv“8 und „entartet“9 bis zu Bedauern über Juris frühen Tod, den Martius später im Leben noch äußerte.10 Zudem sind Reisen und Sammlungen der beiden Forschungsreisenden auch selbst wieder zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkundung geworden und so werden immer weitere Aspekte ihres Forscherblicks freigelegt. Was bei all dem völlig fehlt, ist der Blick der verschleppten Kinder. Da Juri und Miranha nach wenigen Monaten in München verstarben, gibt es heute keinerlei Möglichkeit, ihren Blick kennen zu lernen. Selbst ein kritischer dekolonisierender Ansatz ist immer darauf angewiesen, aus dem Blick der Forscher_innen, der Presse, des Königlichen Finanzministeriums etc. auf die Perspektive der Kinder zu schließen.

Zurschaustellungen

Die Tatsache, dass die ehrenwerten Forscher Menschen verschleppten, wird in den heutigen positiven Bezugnahmen auf Spix und Martius entweder verschwiegen oder es wird ihr mit dem Verweis auf den „Geist der damaligen Zeit“11 Verständnis entgegen gebracht. Die Sammelwut dieser Forschungsreisenden, die mit akribischer Genauigkeit alles studierten, vermaßen und kategorisierten, erstreckte sich eben auch auf Menschen. Damit entsprachen Spix und Martius tatsächlich dem Zeitgeist. Und auch der bayerische König Max I. Joseph tat nichts Ungewöhnliches, als er Spix und Martius mit dieser Reise beauftragte und sich später mit ihrer Sammlung schmückte. Die Historikerin Anne Dreesbach schreibt: „Im höfischen Kontext waren die ‚exotischen‘ Menschen nicht nur Repräsentanten ihrer Heimat, sie symbolisierten auch Weltoffenheit, Reichtum und Besitzanspruch des Fürsten. Der weit verbreitete Besitz von ‚exotischen‘ Tieren wurde durch ‚exotische‘ Menschen ergänzt.“12 Neben dieser Präsenz an den Höfen waren Menschen außereuropäischer Herkunft bereits seit dem 15. Jahrhundert Gegenstand der Zurschaustellung auf Jahrmärkten, Volksfesten oder im Zirkus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm dieses Phänomen immer mehr zu und es konnte auch beträchtlicher kommerzieller Nutzen aus der Schaulust und dem Voyeurismus der Bevölkerung geschlagen werden. Beispielhaft zeigt das die Geschichte von einem findigen Schausteller in der Münchner Au, die der Sprachforscher und Freund Martius‘ Johann Andreas Schmeller in seinem Tagebuch berichtet. Der geschäftstüchtige Schausteller hatte eine Münchner Familie maskiert, angemalt und sie – gemeinsam mit einem gefälschten Gutachten von Spix über die „Aechtheit der Wilden“ als „Indianische Buschmenschen aus Neuholland“ – gegen Eintritt ausgestellt.13

Anatomie

Häufig kam es bei den „Völkerschauen“ zur Zusammenarbeit von Wissenschaftler_innen und Unternehmer_innen. Die Menschen, die gegen Eintritt zur Schau gestellt wurden, waren gleichzeitig Objekte der Sprachwissenschaft, der Ethnologie und – spätestens nach ihrem Tod – der Anatomie. Ein besonders krasses Beispiel dafür ist Juri, der in München nur ein halbes Jahr überlebte. Sein Körper wurde auf dem Südfriedhof beerdigt. Sein tätowierter Kopf war zuvor noch abgetrennt worden und wurde dann – in Spiritus eingelegt – in der Schausammlung der Anatomie öffentlich ausgestellt. Wo der Kopf heute ist, weiß man nicht.

Wieder im Museum

Miranha starb ein Jahr später. Die eingangs beschriebene Grabplatte stellt die zwei idealisierten „Indianerkinder“ dar, denen der Nordwind die Lebensgeister ausbläst. Die Inschrift lautet: „Der Heimat entrückt, fanden sie Sorgfalt und Liebe im fernen Welttheile, jedoch unerbittlich des Nordens rauher Winter“14. Heute ist die Platte im Stadtmuseum ausgestellt. Der Blick auf die Kinder als Opfer des Nordwindes und der Kälte, der den europäischen Sammlerwahn und dessen Konsequenzen völlig ausblendet, wird nicht gebrochen. Vielmehr besteht sogar die Gefahr, ihn zu wiederholen.

1    Süddeutsche Zeitung vom 30.4.2011, S. R4
2    Ebd.
3    Der „edle Wilde“ ist ein Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen Naturmenschen. Diese Projektion, beinhaltete immer auch die Vorstellung, dass dieser Mensch in seiner ihm zugeschriebenen „Ursprünglichkeit“ auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe als der europäische „Kulturmensch“ stehe. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau war ein prominenter Vertreter dieses Konzepts.
4    Leonhardt, Henrike (1987): Unerbittlich des Nordens rauher Winter, S. 133
5    http://www.lateinamerika-studien.at/content/kultur/ethnologie/ethnologie-749.html (zuletzt abgerufen am 17.7.2013)
6    Leonhardt, Henrike (1987): Unerbittlich des Nordens rauher Winter, S. 39
7    Ebd., S. 91
8    Ebd., S. 66
9    Ebd., S. 67
10    Ebd., S. 257
11    http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Baptist_von_Spix (zuletzt abgerufen am 17.7.2013)
12    Dreesbach, Anne (2005): Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870-1940, S. 22
13    Ebd., S. 29
14    Leonhardt, Henrike (1987): Unerbittlich des Nordens rauher Winter, Klappentext

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