Der brutale Krieg einer multinationalen Kolonialarmee in China 1900/01 wurde als zivilisatorische europäische und nationale Mission bejubelt. Die Vereine der Kolonialkriegsveteranen spielten noch Jahrzehnte nach Verlust der Kolonien eine wichtige Rolle für die Aufrechterhaltung sowohl militärischer Mythen als auch kolonialer Propaganda.
Von Martin W. Rühlemann [muc]
„Der Chinesen-Maier hat Geburtstag“ war die Überschrift eines Artikels im Münchner Merkur am 21. März 1964. Dass der von seinen Freunden so betitelte „rüstige alte Herr“ aus dem Münchner Westend an der Niederwerfung des Boxeraufstandes in China teilgenommen hatte und nun seinen 85. Geburtstag feierte, stand dort weiter zu lesen. 1900/01 kämpfte er als junger Mann in der bayerischen Abteilung des 4. Ostasiatischen Infanterie-Regiments an der Seite einer multinationalen Kolonialarmee: „der Amerikaner, der Franzos’, der Japanes’, der Türk’ und der Engländer“ waren an dieser Streitmacht beteiligt, erzählte der „einstige Chinakrieger“ und spätere Münchner Bezirkskaminkehrermeister, was den Autor des Münchner Merkur an „eine Art vorzeitiger UN“ denken ließ.
Mission: christliche Expansion
Tatsächlich hatten sich 1900 etliche Kolonialmächte – darunter auch Russland, Italien und Österreich-Ungarn – verbündet, um China mit einem für diese Zeit neuartigen multinationalen Militäreinsatz zu zwingen, sich entsprechend der westlichen Vorstellungen und Regeln zu verhalten. Die imperialistischen Mächte Europas hatten sich im „Kampf für die Sache der Zivilisation und des Christentums“ vereinigt gegen „fremdenfeindliche Boxer und Chinesen“, so lautete die zeitgenössische Propaganda. Der Name „Boxer“ leitet sich von einer Gruppe ab, die an die Traditionen verschiedener
Faustkampfschulen anknüpfte.
Das chinesische Kaiserreich war keine Kolonie im klassischen Sinne, vielmehr sicherten sich die verschiedenen Kolonialmächte ihren Einfluss durch kleine Stützpunktkolonien. Schon 1889 war die Deutsch-Asiatische Bank gegründet worden. Den Zugang zum chinesischen Markt sicherte sich das Deutsche Reich 1897, als deutsche Truppen die nordchinesische Bucht von Kiautschou mit dem Hafen Tsingtau besetzten und die Region formal für 99 Jahre pachteten. Die 50-Kilometer-Zone um die Bucht wurde später zur „Musterkolonie“ erklärt. Die Inbesitznahme der neuen Kolonie traf in Deutschland auf breite Zustimmung. Damit erklärte die Abteilung München der Deutschen Kolonialgesellschaft etwa auch den Anstieg ihrer Mitgliederzahlen 1897/98.
Boxerkrieg 1900/01
Seit Sommer 1898 nahmen die Spannungen unter der bäuerlichen Bevölkerung Nordchinas zu. Hungersnöte und Auflösungsprozesse der traditionalen chinesischen Gesellschaftsordnung, vorangetrieben durch aggressive christliche Missionierung führten dazu, dass sich ab 1899 die soziale Bewegung der Boxer schnell in einigen Provinzen Nordchinas ausbreitete.Sie richtete sich hauptsächlich gegen die wirtschaftliche Betätigung von Nicht-Chinesen, aber auch gegen Chinesen christlichen Glaubens. Dem Widerstand der bäuerlich geprägten Boxerbewegung gegen die Kolonialmächte schloss sich, nach anfänglichem unentschlossenem Vorgehen gegen die Aufständischen, auch die chinesische Regierung am 21. Juni 1900 an.
Demütigungen und Massaker
Die folgende 55-tägige Belagerung des Gesandtschaftsviertels in Peking durch Boxer und chinesische Soldaten dauerte bis zum 14. August. Nachdem Peking erobert, in einer Gewaltorgie geplündert und ganze Stadtviertel niedergebrannt worden waren, begannen die multinationalen Truppen militärische Strafexpeditionen gegen die Bevölkerung durchzuführen. Grobe Schätzungen gehen von 100.000 Menschen aus, die allein in Peking getötet worden sind. Der kaiserliche Hof hatte
Peking verlassen und die chinesische Armee die Kampfhandlungen eingestellt. Graf von Waldersee, der deutsche Oberbefehlshaber der internationalen Armee, forcierte ab September die Strafexpeditionen, um Mitglieder der besiegten Boxer aufzuspüren. Bei den Expeditionen wurden ganze Städte und Dörfer niedergebrannt, in den schlimmsten Fällen endeten sie in Massakern. An 35 von 53 Militärexpeditionen, die zwischen Dezember 1900 und Mai 1901 stattfanden, nahmen ausschließlich deutsche Truppen teil, die von der chinesischen Bevölkerung als besonders brutal und grausam wahrgenommen wurden. Im September 1901 musste die chinesische Regierung dann einen Vertrag unterzeichnen, der neben demütigenden Regelungen auch hohe Entschädigungszahlungen an die beteiligten acht Staaten vorsah.
Heimatfront
„Der Kampf mit den Boxern war sehr hart“, erinnerte sich der Münchner „Chinakrieger“ 1964. Als letzte Andenken präsentierte er einen „winzigen Schuh” und „eine verblichene chinesische Geldbörse und eine Schärpe“.Das deutsche Ostasiatische Expeditionskorps bestand aus Freiwilligen des Heeres, die zusammen mit Marinesoldaten und in der deutschen Kolonie Kiautschou stationierten Soldaten über 20.000 Mann der knapp 90.000 alliierten Soldaten ausmachten. Die Anzahl der Freiwilligen war angeblich weit größer als der Bedarf gewesen. Die sozialdemokratische Münchener Post behauptete allerdings, dass viele Soldaten des bayerischen Bataillons sich nicht freiwillig gemeldet hätten, was zu empörten Angriffen gegen die „vaterlandslose Presse“ führte. Ebenso wurden die ersten Berichte über Plünderungen der multinationalen Truppe während der Rekrutierungsphase im Juli aufgeregt zurückgewiesen: „denn es ist bei der deutschen Disziplin […] völlig ausgeschlossen, dass deutsche Mannschaften an solch ehrlosen Treiben theilgenommen haben! […] Sollte sich die Meldung der Plünderung Tientsins bestätigen, dann wäre das Ansehen der
‚zivilisirten’ Mächte auf das Schwerste geschädigt“, stellten die Münchener Neuesten Nachrichten (MNN) am 25. Juli 1900 fest.
Ausverkauft! Ein Volksfest der Kriegsbegeisterten
Die Verabschiedungen der deutschen Soldaten waren überschwänglich gefeierte nationale Ereignisse. Die Züge, die die künftigen „Kolonialkrieger“ aus ganz Deutschland in die Hafenstädte brachten, waren mit rassistischen Karikaturen von Chinesen und Aufschriften wie „Pardon wird nicht gegeben!“ oder „Li Hungtschang Du ahnst es nicht!“ versehen. In München sorgte der von Kapellen begleitete Marsch des bayerischen Bataillons von der Max-II-Kaserne zum Laimer Bahnhof am 3. August um zwei Uhr morgens für einen nächtlichen Volksauflauf. Nach einem Bericht der MNN säumten Menschenmassen mit Laternen den Weg, alle Gasthäuser auf dem Weg waren dicht mit Gästen besetzt und im „Kurgarten“
wurde ein Feuerwerk abgebrannt. Die Menge verabschiedete die „Chinakrieger“ am Laimer Tunnel. Am Bahnhof selbst waren Eintrittskarten für 1.300 Personen ausgegeben worden, die die Abfahrt des Sonderzuges mit 40 Wagons nach Bremerhaven bejubelten. Passend zur Kriegsbegeisterung publizierte der Münchner Bruckmann-Verlag ein Album mit Porträts der Offiziere und Ärzte des bayerischen Kontingents, das für zwei Mark in allen Buchhandlungen zu erwerben war. Des Weiteren wurde ein „Bayerisches Hilfskomitee für Ostasien“ ins Leben gerufen, um die deutschen Truppen in China durch reichhaltige Spenden zu unterstützen.
Lyrikpropaganda
Auch der Münchner Stadtarchivar Ernst von Destouches begeisterte sich in seinem Gedicht „Die China-Heerfahrt“ für die koloniale Sache. Er dichtete den Kriegszug als heilige, christliche Mission. Überhaupt scheint die Beteiligung bayerischer Soldaten an dem Kriegszug einige Zeitgenossen zum Dichten animiert zu haben. Felix Dahn, Erfolgsautor aus Hamburg, versuchte nach Meinung von Yixu mit dem Gedicht „Bayerischer Hunnenbrief“ den Sieg des Deutschen Reiches im deutsch-französischen Krieg 1870 bei Sedan „nach China zu verpflanzen“. „Der bescheidene Beitrag der deutschen Streitkräfte […]“, so Yixu, „wurde in der Populärliteratur zu einer zweiten Sedan-Schlacht aufgebauscht, so dass die Aura eines großartigen militärischen Triumphes Deutschlands Taufe als Kolonialmacht umgab.“ Kritik an der menschenverachtenden Kriegsführung des deutschen Militärs gab es von sozialdemokratischer Seite. Ab August 1900 veröffentlichte der Vorwärts Briefe deutscher Soldaten an ihre Angehörigen, die auch das äußerst brutale Vorgehen gegen chinesische Gefangene und Zivilisten schilderten. Etliche Redakteure sozialdemokratischer Zeitungen, in denen die sogenannten „Hunnenbriefe“ erschienen, wurden angeklagt und auch verurteilt.
Der Kampf mit dem Iltis
Die Berichterstattung über China war schon vor dem Krieg geprägt von negativen Stereotypen und Klischees, die ein europäisches Überlegenheitsgefühl und Rassismus zum Ausdruck brachten. Die Auswertung von Feldpostbriefen aus China bestätigt, dass viele deutsche Soldaten schon fertige Bilder wie etwa das vom verschlagenen und hinterlistigen Chinesen mit sich herumtrugen. Auch das Reden von der „gelben Gefahr“ stammt aus dieser Zeit, weckte das riesige Land mit der großen Bevölkerung doch Begehrlichkeiten als ökonomisches Expansionsgebiet und Ängste zugleich. Einige Ereignisse des Krieges wurden zu ruhmvollen, heldenhaften Taten deutscher Soldaten verklärt: Am Angriff auf die den Zugang nach Peking sichernden „Dagu-Forts“ an der Küste am 17. Juni 1900 beteiligte sich das deutsche Kanonenboot „Iltis“. Die Eroberung der Festung wurde im Deutschen Reich euphorisch gefeiert und es gab seitenlange Berichte über die Rolle des Kanonenbootes bei den Kämpfen. Noch heute loben rechte Kreise die Eroberung als nationale Heldentat. In München-Trudering erinnern seit 1933 die Taku-Fort-Straße und die Iltisstraße an die deutsche Beteiligung, wobei die Erläuterung der Iltisstraße später offiziell geändert wurde: Heute ist sie nach dem „heimischen Raubtier Iltis aus der Familie der Marder“ benannt.
„The Germans To The Front!“
Ein weiterer Mythos des Boxerkriegs war der angebliche Ruf des britischen Admirals Seymour: „The Germans To The Front“, der in Deutschland so interpretiert wurde, als sei das deutsche Truppenkontingent wegen besonderer Tapferkeit nach vorne beordert worden. Tatsächlich versuchte eine multinationale Einheit unter britischer Führung im Juni 1900 Peking vorzustoßen, musste sich aber bald zurückziehen. Erst der Befehl zum Umdrehen beförderte vermutlich die deutschen Soldaten an die Spitze. Vor allem das massenhaft reproduzierte Gemälde „The Germans To The Front“ (1902) von Carl Röchling als Postkarte verbreitete in den Folgejahrzehnten die Deutung des Befehls als Anerkennung des Mutes und der Bestätigung des deutschen Strebens nach „Weltgeltung“ durch das mächtige britische Empire. Besonders im Zuge des Kampfes gegen die sogenannte „Kolonialschuldlüge“ in den 1920er Jahren wurde das Bild wieder aktuell.
Die „Kolonialschuldlüge“
In den Jahren der Weimarer Republik sank zwar die Mitgliederzahl kolonialer Gruppen, aber dennoch hielten sie eine erstaunliche Aktivität aufrecht. Erklärbar ist dies nur vor dem Hintergrund der populären Kampagne gegen die sogenannte „Kolonialschuldlüge“ und für die Rückgabe der „geraubten“ Kolonien. Deutschland musste im Versailler Vertrag 1918 alle Kolonien abgeben, mit der Begründung, das Land hätte sich als unfähig zum Führen von Kolonien erwiesen. Zudem herrschte Deutschland grausam und schlecht in den Kolonien. Vor allem den Vorwurf, die Deutschen wären nicht fähig gewesen, Kolonien zu betreiben, empfanden weite Kreise der Gesellschaft als Demütigung. Zur Widerlegung der Vorwürfe erschienen in den 1920er Jahren zahlreiche Publikationen, Romane, Erinnerungsbücher oder Filme, die ein idyllisches Bild der grausamen Kolonialherrschaft zeichneten. Diese massive Propaganda prägte in
Folge lange das Selbstbild der Deutschen als „gute Kolonisatoren“.
Münchens Kolonialkrieger – Münchens Kolonialstraßen
Die ehemaligen Kolonialsoldaten trugen nicht unwesentlich zu dieser Propaganda bei. Die „Kriegerschaft“ war eine der aktivsten Organisationen in München. Sie pflegte nicht nur Erinnerungen an die Kolonialkriege, sondern engagierte sich auch für die Rückgabe der Kolonien und popularisierte weiterhin koloniale Phantasien. 1926 feierten die ehemaligen „Kolonialkrieger“ im Rahmen eines Kolonialgedenktages ihr 25-jähriges Bestehen in Anwesenheit des bayrischen Innenministers und Polizeipräsidenten. Die Ansprache hielt am Abend der berüchtigte Kolonialveteran und „Chinakrieger“, Freikorpsgründer und Putschist Ritter Franz Xaver von Epp in seiner Funktion als Ehrenpräsident der „Kriegerschaft deutscher Kolonialtruppen München“. An den Gedenktagen, die die „Kolonialkrieger“ veranstalteten, nahm immer viel Prominenz teil und auch wenn die einzelnen Organisationen zahlenmäßig nicht besonders stark waren, hatte die koloniale Bewegung doch einen beträchtlichen gesellschaftlichen Einfluss: Die Benennung von Straßen und Plätzen in unzähligen deutschen Städten nach Namen aus den ehemaligen deutschen Kolonien in den 1920er Jahren erfolgte beispielsweise nicht zuletzt durch anhaltenden Lobbyismus der kolonialen Gruppen. In München wurden ab 1925 Straßen mit Namen der „verlorenen“ Kolonien und nach Kolonialpolitikern und -militärs versehen, zuerst im Münchner Westen und 1932 in München-Zamdorf. Mit der Ehrung von grausamen Kriegsherren wie Hans Dominik
oder Hermann von Wißmann wurde der positive Blick auf koloniale Machtverhältnisse offiziell festgeschrieben.
Der Einfluss der Kolonialrevisionisten zeigte sich auch anlässlich der kolonialen Straßenbenennungen
bei der Eingemeindung Truderings 1932/33. 1964 lebten außer ihm noch drei China-Veteranen in München, erzählte der „Chinesen-Maier“. Er gehörte der Vereinigung der „Kolonial-Kameraden“ in München an. Die „Kolonialkrieger“ sind inzwischen längst verstorben. Die hitzige Debatte um die Umbenennung der Münchner „Kolonialstraßen“ vor einigen Jahren weist aber darauf hin, dass ein Bewusstsein über Deutschlands koloniale Verbrechen nach wie vor kaum verbreitet ist.<
Erschienen im Hinterland Magazin, Nr. 18, S. 63-66.
Und hier gibt es eine ausführliche Version des Artikels mit allen Belegen, Fußnoten etc.